Andere Zeiten - ander Fakten
Pankow - eine »rechte Hochburg« der neunziger Jahre
Ich begann meine Arbeit als für den ehemaligen Arbeiterbezirk Pankow zuständige Jugendrichterin nicht allzu lange nach der Wende. Pankow gehört zum Ostteil der Stadt. Manche Menschen dort gaben sich Anfang der neunziger Jahre noch der Idee hin, der Staat werde das Problem mit den Arbeitsplätzen schon richten. So war ja schließlich schon immer gewesen. Aber die Realitäten sahen rasch anders aus. Viele Betriebe schlössen, Arbeitslosigkeit kam auf. Die Familien waren zunehmend auf Sozialhilfe angewiesen. Die Eltern begannen zu trinken und auf das System zu schimpfen. Während des Hadems und Zeterns verwahrloste manche Wohnung in rasender Geschwindigkeit. Wenn dann die Polizei und das Jugendamt gerufen wurden, fanden sie zunehmend die Kevins und Kimberlys vor, die auf einem Müllberg hausten. Nicht selten hatten sie Striemen auf dem Gesäß. Wahrscheinlich, weil sie das letzte Gelage gestört hatten. Vielleicht hatten sie auch bloß Hunger oder Durst oder wollten zum Spielen mit anderen Kindern. Wenn sie aber doch gebraucht wurden, um Bier zu holen? Dass Kimberly früh den Haushalt verlässt, ohne nennenswert beschult worden zu sein, Büstenhalter bei H&M sowie Kosmetika bei Schlecker klaut, mit sechzehn erstmals schwanger ist, trinkt oder Heroin drückt, auf den Strich geht und mit zwanzig Jahren drei Kinder hat, die seinerzeit in Pflegefamilien untergebracht werden konnten, weil es sich noch nicht um ein Massenphänomen handelte, soll hier nicht weiter erläutert werden. Aus Jungen wie Kevin ist oft einer von denen geworden, die woanders Halt suchen, nachdem die positive Identifikationsfigur des arbeitenden Vaters abhandengekommen war. Die männlichen deutschen Jugendlichen - nichtdeutsche gab es zu diesem Zeitpunkt im Ostteil der Stadt kaum - verloren zum Teil die Orientierung, suchten Halt und Vorbilder, und binnen Kurzem hatte sich eine sichtbare rechte Szene gebildet. Die Bomberjacken und Springerstiefel etablierten sich. Die Haare wurden abrasiert.
Pankow bereitete uns Jugendrichtern Anfang bis Mitte der neunziger Jahre deshalb erhebliche Probleme. Konkret: Die Glatzen zogen durch die Gegend und schlugen mit Baseballkeulen alles kurz und klein, was auf sie entweder fremdländisch oder „asozial" wirkte. Die in der rechten Szene bis heute gebräuchlichen Begriffe „Zecke" und „Assi" bildeten sich für andere junge Leute heraus, die mit bunten Haaren, zahllosen Piercings und meistens ebenso vielen Hunden vor dem U-Bahnhof herumsaßen, sich durchschnorrten und auch nicht wussten, wie sie den nächsten Tag verleben sollten. Es ging den orientierungslosen jugendlichen Deutschen darum, jemanden zu finden, der unter ihnen stand. Die „Rechten" hatten zwar auch keinen Job und verfügten zudem kaum über die intellektuellen Voraussetzungen, um jemals einen zu finden. Aber man war sozusagen uniformiert und organisiert, vor allem hatte man einen Lebensinhalt - der darin bestand, irgendeine Ordnung herzustellen, um die Inhaltsleere der eigenen Existenz nicht ertragen zu müssen. Jugendstrafen ohne Bewährung haben die Jugendrichter damals häufig vollstreckt.
Aus vielen Kevins ist bis heute niemand geworden, der einen „rechtschaffenen" Lebenswandel führt, wie es im Jugendgerichtsgesetz als Ziel des Jugendstrafvollzuges festgelegt ist. Einige Lebensläufe habe ich weiterverfolgt. Das war mir möglich, ohne die Verfahren von damals nochmals herauszusuchen, denn die Fälle waren quantitativ noch so überschaubar, dass ich die Namen der Täter bis heute auswendig wiedergeben kann. Kevin ist nicht mehr in der „rechten Szene". Aber er trinkt und prügelt sich immer noch und wird abwechselnd zu Geld- und Freiheitsstrafen mit und ohne Bewährung verurteilt.
Friedrichshain - früher arm, heute alternativ
Ein weiterer Bezirk, für den ich lange Zeit zuständig war, ist Friedrichshain, ebenfalls ein Bezirk in der ehemaligen Hauptstadt der DDR. In den neunziger Jahren war der Stadtteil noch stark sanierungsbedürftig. Sozial eher schwache Menschen lebten dort. Gemessen daran gab es zum damaligen Zeitpunkt verhältnismäßig wenige schwerwiegende Straftaten.
Eine Bande notorischer Autoknacker ist mir allerdings in lebhafter Erinnerung. Sie hielt die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Jugendgerichtshilfe und die Justiz mehr als ein Jahr lang in Atem. Es waren „Intensivtäter", lange bevor es den Begriff gab. Immer wieder zogen die Jugendlichen nachts los, brachen kleine PKW der Marke Opel auf, weil das damals wohl besonders einfach war, rissen die Verkleidung herunter, schlössen die Fahrzeuge kurz und fuhren den Tank leer. Ein trauriges Ende fand die Serie für einen der Haupttäter erst, als er nach einer Verfolgungsfahrt mit der Polizei in mehrere geparkte Fahrzeuge knallte und einen Radfahrer totfuhr. Eine schlimme Hauptverhandlung war das, denn der Angeklagte entschuldigte sich bei allen Geschädigten, deren Auto er zu Schrott gefahren hatte. Für die Eltern des getöteten Radfahrers, der in Berlin studiert hatte, fand er hingegen kein Wort. Ein trauriger Einzelfall, der mir nie aus dem Sinn gegangen ist. Aber eben eher ein Einzelfall.
Ansonsten hatte man es in den neunziger Jahren in Friedrichshain vornehmlich mit Schülern und Studenten zu tun, die kifften und schwarz mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren, oder mit Punks, die klauten, zu viel tranken und es nicht so mit der Obrigkeit hatten, weshalb etliche Verfahren wegen „Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte" zu bearbeiten waren.
In den letzten Jahren hat Friedrichshain jedoch eine Schattenseite entwickelt. Diese zeigte sich zunächst vorrangig bei den jährlieh wiederkehrenden 1.-Mai-Krawallen. Linksautonome meinten, dem Weltfrieden am besten durch brennende Müllcontainer dienen zu können. Das war für die Polizei mehrere Jahre lang einigermaßen zu regeln, weil sich die Gewalt auf den 30. April und den 1. Mai beschränkte. Anders stellte sich die Lage im Jahr 2009 dar. Allein bei den 1.-Mai-Krawallen wurden 440 Polizeibeamte verletzt - insgesamt bringt es die Stadt im Jahr 2009 auf knapp 3000 verletzte Polizeibeamte -, einige bewarf man mit Brandsätzen. Am 1. Mai 2009 erfolgten 289 vorläufige Festnahmen. Die Tagespresse zitierte Beamte mit den Worten: „Wir wurden zur Steinigung freigegeben". Der Schwerpunkt der Ausschreitungen lag nicht allein in Friedrichshain, sondern bezog sich auch auf umliegende Stadtteile. Die frühere offizielle Einschätzung, dass vorwiegend sogenannte „erlebnisorientierte Jugendliche" ein wenig Abenteuerlust ausleben wollten, ist aus meiner Sicht nicht mehr haltbar. In diesem Zusammenhang sind auch die im Laufe des Jahres 2009 in Brand gesetzten Autos in Friedrichshain und anderen Stadtbezirken zu erwähnen. Der Anschlagsserie auf Hunderte höherwertige Fahrzeuge steht die Polizei derzeit noch ohne nennenswerten Ermittlungserfolg gegenüber. Sie ist mit ihren gegenwärtigen personellen Ressourcen kaum in der Lage, die Serie zu stoppen. Ein bisschen 1. Mai ist jetzt jeden Tag. Erst ganz allmählich häufen sich erste Stimmen, die diese Form „linker" Gewalt anprangern. Das ist überfallig. Ich komme später noch einmal darauf zurück.
John - Tragik eines Punkerlebens
John ist der Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters, eines farbigen GI. Der verschwindet noch vor Johns Geburt auf Nimmerwiedersehen in die Staaten. Die Mutter hat eigene Probleme, ist die meiste Zeit ihres Lebens auf Sozialleistungen angewiesen und packt das mit der Erziehung nicht, zumal bald mehrere Kinder vorhanden sind. Mit dreizehn kommt John erstmals in ein Heim. Etwa zur selben Zeit fangt er an, Bier-Schnaps-Getränke zu sich zu nehmen. Er konsumiert etwa drei Liter Bier am Tag, jedenfalls so viel, dass man „dicht" wird. Mit fünfzehn Jahren kommen
Speed, Ecstasy, Cannabis und Heroin dazu, das er raucht, nicht injiziert. Bis er sechzehn ist, bleibt John in wechselnden Unterbringungen der Jugendhilfe, danach ist er nicht mehr zu halten. Bereits mit vierzehn hatte er sich einer Gruppe von Punkern angeschlossen, die ihren Tag auf der Straße verbrachten und dort bettelten. Die nächsten Jahre verbringt er damit, bis mittags zu schlafen, danach zum Alexanderplatz zu gehen und zu „schnorren". Das Geld wird umgehend in Alkohol umgesetzt. Dann wird Party gemacht, bis man umkippt, und irgendwann am nächsten Mittag steht man wieder auf. So gestaltet sich jeder Tag. Die schulische Entwicklung verläuft entsprechend. Ab der 5. Klasse besucht John eine Lernbehindertenschule, ab der 7. Klasse eine Hauptschule. Da er in der 8. und 9. Klasse nicht mehr anwesend ist, wird er ohne Abschluss ausgeschult. Der Staat kommt in dieser Lebensphase längst nicht mehr vor. Der Jugendliche verschwindet in unserem hoch organisierten Land einfach vom „Schirm".
Als er mir im Sommer 2005 aus der Untersuchungshaft vorgeführt wird, steht er kurz vor Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres. Er ist groß und kräftig, hat freundliche Augen, durch den Alkoholkonsum aber bereits gezeichnet. Irgendwie rührt er mich. Die Taten, deren er angeklagt ist, sind weniger rührend:
Im Sommer des Vorjahres sitzt John mit seinen Kumpels gegen 1.00 Uhr nachts vor einem Schnellrestaurant und bettelt. Ein Mann äußert: „Geht arbeiten". John steht auf und schlägt dem Mann seine Faust ins Gesicht. Danach tritt er ihn mit seinen Springerstiefeln in den Rippenbereich. Die John eine Stunde später entnommene Blutprobe weist eine Alkoholkonzentration von 2,45 Promille auf.
Zwei Monate später entsteht eine vergleichbare Situation, nur dass sich dieses Mal ein Passant über die freilaufenden Hunde beschwert. John und einer seiner Kumpel verprügeln den Passanten, und zwar dergestalt, dass dieser, vor den Tätern zurückweichend, auf den Fahrdamm gerät. Dort wird er nur deshalb nicht überfahren, weil ein geistesgegenwärtiger Fußgänger das nahende Fahrzeug anhält. Als das Opfer auf der Straße am Boden liegt, setzt sich John auf ihn und schlägt weiter auf ihn ein. Auch mit Springerstiefeln wird der Mann getreten. Johns Blutalkoholwert eine Stunde nach Tatbegehung: 2,35 Promille.
Wiederum einige Monate später streitet sich John mit einem Leidensgenossen und mit 3,06 Promille im Blut um dessen Schnapsflasche. Da der andere die Flasche nicht rausrückt, gibt es eins auf die Nase.
Ebenfalls noch im Jahr 2004 hängt John wieder einmal mit anderen Punkern am Alexanderplatz herum. John möchte die Lederstiefel eines anderen jungen Mannes haben. Der gibt sie ihm natürlich nicht freiwillig. Also hilft John nach, indem er dem sich Sträubenden eine Luftdruckpistole in die Magengrube drückt. Inzwischen beteiligen sich weitere Punker an der Auseinandersetzung. Das Opfer wird von mehreren Seiten geschlagen und getreten. Es gelingt ihm dennoch, in ein Geschäft zu flüchten, weshalb John die Stiefel letztendlich nicht bekommt. War bislang nichts passiert, wird John nun erstmalig in Untersuchungshaft genommen.
Obwohl John wegen der Delikte erstmals zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt wird, bekommt er keine „echte" Bewährung. Zu offensichtlich und unbearbeitet ist die Alkoholproblematik. Durch die mehrmonatige Untersuchungshaft bis zur Hauptverhandlung ist John aber zumindest körperlich „trocken" und auch von dem Hafterleben schwer beeindruckt. Deshalb wird eine sogenannte „Vorbewährung" von sechs Monaten beschlossen. In dieser Zeit soll John mit einer Bewährungshelferin zusammenarbeiten und eine Alkoholentwöhnungstherapie beginnen. Die Bewährungshelferin soll ihm behilflich sein, das Richtige für ihn zu finden. Nach Ablauf der sechs Monate soll dann über die eigentliche Bewährungsfrage entschieden werden.
Irgendwie hoffe ich, dass es klappt. Der erste Bericht der Bewährungshelferin ist dann auch außerordentlich positiv. Die Zusammenarbeit mit ihr erfolgt regelmäßig, John hat ein eigenes festes Dach über dem Kopf und sucht eine geeignete Therapie. In der Zwischenzeit betreuen ihn der Anti-Drogen-Verein und die „Off-Road-Kids". Ganz hat er das Saufen nicht aufgeben können, aber er sagt: „Aus dem König Alkohol ist ein Prinz geworden." Blöd kann der nicht sein, denke ich mir beim Aktenstudium. Blöd ist hingegen, wie lange die Bewilligung der Therapie beim zuständigen Rententräger dauert. Anfang 2006 schreibt mir John, dass er zunächst eine zehntägige Entgiftung und dann eine viermonatige Entwöhnungstherapie antritt. Ich kann deshalb die Vollstreckung der Strafe nach Ablauf der sechsmonatigen Vorbewährungszeit aussetzen. Die Entgiftung findet dann noch statt, die stationäre Therapie beendet John allerdings vorzeitig. Die Bewährungshelferin und er meinen, eine ambulante Fortsetzung sei angebracht. Da John regelmäßig seiner MAE-Maßnahme (Mehraufwandentschädigungs-Maßnahme bei ALG-2-Empfängern, sprich einem 1-Euro-Job), nachgeht, eine Freundin hat, keine Straftaten begeht und die Bewährungshelferin regelmäßig aufsucht, halte ich still, obwohl mir rasch unwohl wird. Dann weigert sich der Anti-Drogen-Verein, mit John weiter zu arbeiten, seine Freundin verlässt ihn und der Rückfall ist da. Sofort hagelt es neue Anklagen: John prügelt sich im Park um einen Bierkasten, begeht Graffiti-Schmierereien, fährt permanent schwarz. Die Wohnung wird zwangsgeräumt. Ich muss einen sogenannten Sicherungshaftbefehl erlassen, denn der Widerruf der Bewährung steht unmittelbar bevor. Plötzlich erfahre ich, dass John in der Schweiz verhaftet wurde. Er wird in Zürich wegen Raubes und Besitzes von Cannabis und Amphetamin zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt. Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe wird er u.a. aufgrund meines Haftbefehls nach Deutschland ausgeliefert. Als ich ihn anhöre, bevor ich die Bewährung widerrufe, erzählt er mir, er habe gehofft, sich in der Schweiz zu fangen, stattdessen seien die Alkoholabstürze nur noch schlimmer geworden. Auch das Landgericht Berlin hat einen Haftbefehl gegen John erlassen. Es ging in dem Verfahren um besagte Bierkästen, die unter Verwendung eines Totschlägers, den allerdings nicht John einsetzte, den Besitzer wechseln sollten. John wird auf Anordnung des Landgerichts begutachtet. Der Sachverständige attestiert ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und „den Hang, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen". Das hat juristische Konsequenzen. Nach § 64 StGB wird dann die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet, wenn zu befürchten ist, dass ein Angeklagter sonst weitere erhebliche Taten begehen wird.
John befindet sich jetzt in einer geschlossenen Einrichtung des Maßregelvollzuges in Berlin. Diese leistet offenbar hervorragende Arbeit. John wird demnächst den Hauptschulabschluss erlangen, er hat das Rauchen aufgegeben und erfreut sich daran, auf dem Anstaltsgelände joggen gehen zu können, weil seine Lunge jetzt frei ist. Sein Verstand ist auch frei. Ich weiß das, weil ich ihn besucht habe und er mir seine Gedichte überließ. An dieser Stelle dürfen Johns Gedanken ihren Weg in die Öffentlichkeit finden - wenigstens in einem kleinen Ausschnitt:
„Finsternis"
Wie der Herbst sich leise in die Bäume schleicht, so niedergedrückt, so starr, so merke auch ich die Müdigkeit, die mich erreicht, das Leben in weiter Ferne, so endlos, so rar. Oh wie finster der Sturm das Firmament bezieht, garstig mit Blitz und Donner vor sich her grollt, so ward mein Leben von Verachtung und Hass besiegt, so rastlos, so unruhig, wie nie gewollt. Wie die Blätter hilflos im Sturm nach Leben schreien, so ausgelaugt, so schwer, so versprach ich meinem Lebensmut zu verleihen, so abgewürgt, tot und leer. Wie der alte Baum die hellen Tage vermisst, morsch und kahl sich nicht bewegt, wie er sich an schöne Tage erinnert und sie sogleich vergisst, so ermattete auch ich und kämpfte um den letzten Funken, der in mir lebt.
Johns Lebenslauf ist ebenfalls typisch: Eine alleinerziehende, häufig auf staatliche Transferleistungen angewiesene, mit weiteren persönlichen Problemen belastete Mutter mehrerer Kinder, Heimaufenthalte, die früh angelegte Drogenkarriere, kein Schulabschluss, Abgleiten in die Obdachlosigkeit, Bettelei - schließlich nahezu zwangsläufig kriminelles Verhalten bis hin zu massiver Gewalttätigkeit. Am Ende steht staatlicher Gewahrsam, ob nun in Form von Knast, Psychiatrie oder Entziehungsanstalt. Ich werfe mir rückschauend ein Versäumnis vor, das sich durch Johns Geschichte zieht und das auch mir unterlaufen ist: Es wurde zwar ab und zu irgendwie versucht, in die Entwicklung regulierend einzugreifen. Was aber fehlte, war die Nachhaltigkeit, die Kontinuität. Auch ich habe nicht darauf bestanden, dass John die stationäre Therapie durchzieht. Die kurzfristige Stabilisierung durch die Freundin nach seiner Verurteilung, die MAE-Maßnahme, die Zusammenarbeit mit der Bewährungshelferin, die körperliche Entgiftung und die Betreuung durch einen Anti-Drogen-Verein haben mich dazu veranlasst, dem Alkohol- und Drogenmissbrauch, der eindeutig und unübersehbar seit mindestens zehn Jahren Johns Hauptproblem darstellt, nicht absolute Priorität einzuräumen. Das wäre aber notwendig und richtig gewesen: einmal bei einer Linie zu bleiben, einen roten Faden zu spinnen. Denn Abbrüche aller Art und Güte sind die wenigen Konstanten in Johns bisherigem Leben. Von der Mutter weg, ins erste Heim und in ein weiteres und immer so weiter. Ähnlich verhält es sich mit der Schule. Immer wurde er irgendwie durchgereicht. Letztendlich werden die tatsächlichen Probleme nicht erkannt, und falls doch, nicht kontinuierlich und konsequent bekämpft.
Anders stellt es sich jetzt im Maßregelvollzug dar. Hier hat John genug Zeit, an sich zu arbeiten, und wird dabei sehr qualifiziert und professionell unterstützt.
»Wir sind die Guten« - Jugendliche aus »besserem Haus«
Einige Jugendliche aus den „gutbürgerlichen" westlichen Bezirken Berlins haben im Laufe der Jahre, in denen ich als Jugendrichterin tätig bin, eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Sie sind immer satter geworden und begehen deshalb die eine oder andere Straftat. Hier sind die Eltern überwiegend Doppelverdiener, verfügen über eine tolle Wohnung, eher noch über ein freistehendes Einfamilienhaus, es gibt viele Reisen, perfekt ausgestattete Kinderzimmer mit Laptop und Fernseher - Flachbildschirm, versteht sich. Die Jugendlichen verfügen über sehr viel Geld, das sie in ihr Handy, Alkohol und Drogen, vornehmlich jede Menge Haschisch, investieren. Ein Heranwachsender aus dem Westteil der Stadt, der im Gericht vor mir stand, weil er Kokain im Wert von etwa 2500 Euro gekauft hatte, was aufgrund der Menge den Verdacht nahelegte, er wolle das Rauschgift weiterverkaufen, schilderte mir kühl, er habe vorgehabt, in der Villa seiner Eltern, zweier Ärzte, eine Party zu feiern, und habe seinen Freunden mal was anderes bieten wollen als immer nur Champagner. Die Eltern erschienen nicht zur Gerichtsverhandlung. Es war ja auch schon alles so lange her - der Sohn hatte inzwischen ein Jahr Auslandsaufenthalt zur Vorbereitung auf sein Studium hinter sich, ließ man mich wissen.
Einzelne Jugendliche aus den sozial bessergestellten Familien haben zum Teil kein Verhältnis mehr zum Allgemeingut. Sie zerstören mutwillig Schulinventar, zerkratzen die Computerbildschirme, verwüsten Sanitäranlagen und sprühen rund um die Schule massenhaft Grafiitis. Die Schulen zeigen viele Taten nicht an, sondern versuchen, die Angelegenheit intern zu regeln. Ich vermute stark, dass dahinter die Sorge steht, der „Ruf" der Schule könnte anderenfalls leiden. Falls es dann doch einmal zur Gerichtsverhandlung kommt, haben die Angeklagten zwei Anwälte dabei, die in Zweifel ziehen, dass Karl-Konrad mit bedröhntem Kopf und unter den Augen von fünf Zeugen den Seitenspiegel eines Autos abgetreten hat.
Was mir zudem besonders auffallt, ist die Qualität des Mobbings, das in meinen Augen inzwischen gerade an Gymnasien extrem zugenommen hat. Wer einmal „Opfer" ist, findet aus dieser Rolle nur sehr schwer wieder heraus. Manchmal hilft hier tatsächlich nur ein Schulwechsel. Mitursächlich für dieses Phänomen sind aus meiner Sicht u.a. das „Schüler-VZ" und andere Chatrooms. Die Schüler können mittels solcher Internetdienste miteinander in Kontakt treten. Das ist für sich genommen gut. Besser wäre es aber, wenn verschiedene Schulen, möglichst aus unterschiedlichen Bezirken, Partnerschaften miteinander eingingen und gemeinsame Projekte durchführten. Auf einer solchen Ebene könnten sich die Jugendlichen persönlich kennenlernen und Freundschaften schließen. Die Anonymität des Internets führt stattdessen oft dazu, dass man sich ein gemeinsames Opfer sucht und auf diesem „virtuell" herumhackt. Es wirkt dann fast wie ein Spiel. Ein völlig entgegengesetzter Effekt tritt hingegen für die Betroffenen ein. Diese können sich aufgrund der Vervielfältigung der über sie verbreiteten Gerüchte in der Regel kaum zur Wehr setzen. Sie fühlen sich ohnmächtig dem Aggressor ausgeliefert. Die Möglichkeiten, sich der Situation zu entziehen, sind eingeschränkt, denn die Mobbing-Opfer haben häufig kein reales Gegenüber. Außerdem schämen sie sich, weil sie eben „Opfer" sind - und das nicht ohne Grund: „Du Opfer!" ist inzwischen eine beliebte Beleidigungsformel geworden.